Annullierte Aufarbeitung – Das Rollback des Henrich Misersky in der Doping-Aufarbeitung
Von Werner Schulz
Appendix:
Am 23. 3. 2023 wurde die Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat durch die Anwälte von Ilko-Sascha Kowalczuk abgemahnt, der in dem Beitrag von Werner Schulz diverse Passagen über sich gelöscht haben wollte. Das Rechtsamt der Freien Universität Berlin wies die Unterlassungsforderung zurück.
Daraufhin reichten Kowalczuks Anwälte am 30. Mai 2023 beim Landgericht Berlin Klage gegen die Freie Universität Berlin ein. Unter anderem hatte Werner Schulz darüber berichtet, dass Ilko-Sascha Kowalczuk ihm eine abfotografierte Seite aus der archivierten Opferakte von Geipel im Stasi-Unterlagen, Archiv, Kowalczuks Arbeitsstelle, mit der Bezeichnung „Geipel4.jpeg“ und dem Vermerk: „Fundstück unter vielen“ zugeschickt hatte.
Kowalczuks Anwälte verlangten nun die Unterlassung der Äußerungen von Werner Schulz, dass jemand die Akte von Geipel durchsucht habe, um sie zu diskreditieren.
In einem weiteren Punkt ging es um die Feststellung von Werner Schulz, dass Geheimdienstunterlagen derart missbraucht würden, „wollten wir Bürgerrechtler unter allen Umständen verhindern“.
Der Vorsitzende Richter der Pressekammer des Berliner Landgerichts Reinke machte gleich zu Beginn der Verhandlung am 8. 10. 2024 deutlich, dass diese beiden Äußerungen nicht zu beanstanden seien, lediglich eine von Werner Schulz geäußerte Vermutung solle unterlassen werden, da für diese keine Quelle angegeben worden sei. Dieser Satz ist im vorliegenden Text geschwärzt.
Alle anderen Aussagen von Werner Schulz sind hiermit gerichtsfest.
Zum Beitrag Annullierte Aufarbeitung
Ines Geipel war berufener Olympiakader, lief diverse Jahresweltbestleistungen und einen damals so gültigen Clubstaffelweltrekord in 42, 20 s. Sie schied weder freiwillig noch aufgrund mangelnder Leistungen aus dem Leistungssport der DDR aus. Sie war ein Opfer der Staatssicherheit und Restriktionen ausgesetzt. Ihr wurde aus politischen Gründen die Promotion entzogen. Sie wurde als Einzige ihrer Seminargruppe nicht an einen Arbeitsplatz vermittelt, was für ein Universitätsstudium in der DDR verbindlich war.
Die hier dargestellten Dokumente belegen das auszugsweise.
In diesem Zusammenhang hat sich auch der vor kurzem verstorbene DDR-Bürgerrechtler und Politiker Werner Schulz geäußert (Beitrag weiter unten).
Berufener Olympiakader Los Angeles 1984
“Die Tochter Ines ist berufener Kader für die Olympischen Sommerspiele 1984 in Los Angeles.” Ministerium für Staatssicherheit, Hauptabteilung IV
Clubstaffelweltrekord
Ines Geipel lief diverse Jahresweltbestleistungen und einen damals so gültigen Clubstaffelweltrekord in 42, 20 s. Quelle: ADN
Verbannung aus dem Leistungssport
“Daraus folgt, dass die notwendigen Maßnahmen zur Beendigung der leistungssportlichen Entwicklung der Schmidt einzuleiten sind.” Operativinformation der KD Jena.
Operative Erkenntnisse
“Auf Grund der vorliegenden operativen Erkenntnisse zu der SCHMIDT, Ines wird ein weiterer Einsatz als NSW-Reisekader/Sport nicht bestätigt.” Bundesarchiv Stasi-Unterlagen-Archiv
Verbindungen zu politisch negativen Personen
“Ines Geipel wird als Reisekader für das NSA nicht bestätigt. …. die G. unterhielt umfangreiche Verbindungen zu politisch negativen Personen in Jena.” Hauptabteilung XX/3
Herauslösung aus dem Leistungssport
“Wenn dieser Einsatz (aus Sicht des MfS) nicht möglich ist, muss eine Herauslösung der Geipel aus dem Leistungssport der DDR durchgesetzt werden.” Hauptabteilung XX/3
Politische Haltung während des Studiums
“Zur anfänglichen offiziellen Förderung als Leistungssportlerin kamen sehr bald politisch motivierte Auseinandersetzungen und Restriktionen, die sich auf Frau Geipels Position in der kritischen Jenaer Studenten- und Kunstszene gründeten. Sie erhielt disziplinarische Verweise und wurde – was den Vorschriften widersprach – als einzige ihrer damaligen Seminargruppe nicht an einen Arbeitsplatz vermittelt.” Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institutionelle Restriktionen während des Studiums
“Die von mir damals nachdrücklich unterstützte Fürsprache, sie als Aspirantin einzustellen, fand keine Unterstützung, vielmehr den politisch motivierten Widerstand der maßgeblichen Institutionen.” Prof. Dr. Helmut Brandt, Jena 1992
Zu Ines Geipels Aussagen vor der ZERV
Die Zeugenbefragung von Ines Geipel vor der ZERV war 1997.
Erst 1998 erschien Giselher Spitzers grundlegende Studie „Doping in der DDR. Ein historischer Überblick zu einer konspirativen Praxis“.
Erst mit ihr konnten die Systematik des DDR-Zwangsdopings sowie die persönlichen Sportgeschichten geklärt werden. Spitzers Studie wurde in der Folge zum Standard der Forschung, der juristischen Aufarbeitung, für die öffentliche Debatte sowie die Entschädigungspolitik der Bundesregierung.
Für den Sporthistoriker sind die Athletinnen und Athleten dabei in einem grundsätzlichen Sinn „Opfer eines diktatorischen Sportsystems“. Spitzers Positionen fanden in Gänze Eingang in die im Jahr 2000 stattgefundenen strafrechtlichen Dopingprozesse, die bis vors Bundesgericht gingen. Die Sportlerinnen und Sportler wurden als „Opfer eines staatlichen Zugriffs in einem diktatorischen System“ anerkannt, das Zwangsdoping galt als „hoheitliche Maßnahme“ und die Vergabe männlicher Steroide als „Beibringung von Gift“ sowie als „vorsätzliche Körperverletzung“.
Ob minderjährig oder erwachsen: Der fehlende informed consent, die Uninformiertheit oder auch bewusst ausgebliebene Aufklärung über Neben- und Spätwirkungen der Dopingsubstanzen wurde zum Hauptkriterium bei der Feststellung der Schädigungen.
Im Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 9. 2. 2000 wurden die DDR-AthletInnen als Opfer des Systems anerkannt, „da ihnen ohne Rücksicht auf ihren Willen eine sogar ihrem Wissen vorenthaltene Aufopferung ihrer Gesundheit durch Hinnahme von beträchtlicher gesundheitlicher Gefährdung abverlangt wurde.“
Im Berliner Prozess, in dem Ines Geipel Nebenklägerin war, spricht das Urteil bei allen von „Geschädigten“ in einem „totalitären Machtapparat“ und davon, dass „keine der Geschädigten über die Wirkungsweise dieser Tabletten sowie schädigende Nebenwirkungen aufgeklärt worden war.“
Erst nach den strafrechtlichen Prozessen war es Ines Geipel möglich, die eigene Krankenakte einzusehen. Aus ihr geht hervor, dass sie weit früher gedopt wurde, als bei der Zeugenvernehmung 1997 angenommen. Auch die Stasi-Opferakte setzte sich erst sukzessive zusammen. Unter diesen Voraussetzungen – der politischen wie persönlichen Aufarbeitung – ist ein Antrag auf Entschädigung vor dem Bundesverwaltungsamt gestellt und auch bewilligt worden.
Die Dopingvergabe war „staatliche Willkür“ und erfolgte anfangs ohne Wissen, später gegen den Willen. Trotz massiver Anwürfe bleiben diese Aussagen korrekt.
Stasi-Opfer fordert Akte nach Datenleck zurück
Von Sabine Adler und Norbert Pötzl
Die Akte eines Stasi-Opfers darf ohne dessen Wissen nicht an Dritte weitergegeben werden. So ist es im Gesetz niedergeschrieben. Dokumente aus der Akte der ehemaligen DDR-Sportlerin Ines Geipel sind als Foto aufgetaucht. Der Verdacht: Ein Leck in der Stasi-Unterlagenbehörde. Das hat nun Konsequenzen.
Attacke aus der Nacht
Von Anno Hecker
Henner Misersky gilt als moralische Instanz des DDR-Sports. In der Dopingaufklärung kämpfte er an der Seite von Ines Geipel. Bis er anfängt, sie anzugreifen. Warum? Eine Annäherung.