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Klondike der Texte
Die dritte Literatur Ostdeutschlands wartet auf ihre Entdeckung

von Ines Geipel

Der Bachmann-Preis 2020 an Helga Schubert, Jahrgang 1940, war ein Coup. Eine Schriftstellerin, die aus politischen Gründen zu Zeiten der DDR nicht am Bachmann-Preis teilnehmen durfte und nun mit einem starken Text an den Start ging, der gehörte das Ding nun mal. Der Preis war Würdigung, Rehabilitierung und Genugtuung zugleich. Er kam spät und doch merkwürdig auf den Punkt. Als hätte sich mit einem Mal eine Tür geöffnet. Dabei erzählt Helga Schubert heute, was und wie sie immer erzählt hat. Über das Ostdeutsche, den endlosen Nachkrieg, die Doppeldiktatur, die Traumata, die Mythen, die oft heillose Familienbande, die mitunter eher zu Drahtseilen zu werden drohen. Sie ist eine Meisterin des Faktischen, Präzisen. Eine, die sich über Jahre in die Archive hockt, um dann ein Buch über Verräterinnen im Nationalsozialismus zu schreiben. Eine, die ihren nahesten Freundinnen in den Alltag blickt, um dann zu sagen: „Wo Leben ist, da ist auch Schmerz“. Die Prosa, die in der Folge entstand, konnte sie seit Mitte der 70er Jahre großteils veröffentlichen, dabei immer in Distanz zu den Verhältnissen. Als Psychologin hat Helga Schubert über Jahrzehnte den Gefühlscontainer des Ostens abgescannt, um nach 1989 zu konstatieren: „Die Sache ist vertrackt“. Sie meinte das Komplexe an Ideologie, an Formiertem, an Schmerz und ließ sich Zeit, um ihr Schreibkonzept zu schärfen – ein ästhetische Politik des Gefühls. Sie ist aus auf eine Art Nachzeit, ein anderes Zeitmaß, eine mimetische Wundheilung. Sorgsam anschauen, Stück für Stück auseinandernehmen, sortieren, neu zusammensetzen, integrieren, vermitteln, den genauen Punkt treffen. Das muss man drauf haben, sonst war alles umsonst.

Der Blick Richtung Osten, hin zu seinem Gegengedächtnis in der Literatur, scheint sich nach und nach zu weiten. Denn kurz nach Helga Schubert wurde bekannt, dass die 1949 in die DDR übergesiedelte Elke Erb für ihr Gesamtwerk den Büchner-Preis erhalten würde. Auch sie eine, die die hartnäckigen Ideologieangebote der DDR wie fremde Vögel an sich vorüberziehen ließ. „Ich habe den Verhältnissen gekündigt, sie waren falsch“, schrieb sie schon 1965 lapidar. Helga Schubert und Elke Erb konnten über alle erdenklichen Hindernissen hin zu DDR-Zeiten veröffentlichen und sind endlich da. Was ist mit denen, die das partout verunmöglicht wurden?

Von Anfang an waren sie da: die Rückgratverteidiger, die Gegenstimmen, das andere Gesicht der ostdeutschen Literatur. Eine Frau wie Edeltraud Eckert etwa. 1930 in Schlesien geboren, Flucht am Ende des Krieges zusammen mit der Familie nach Brandenburg. Verspätetes Abitur, dann Studium an der Humboldt-Universität in Ostberlin und ihre Begeisterung für die neue Idee: ein neuer Staat, endlich auch für die Frauen. Als Edeltraud Eckert aber von der Existenz der NKWD-Lager hörte, den nach 1945 vom sowjetischen Geheimdienst in Ostdeutschland eingerichteten Speziallagern, war der Schock groß. Das sollte die Realität des sozialistischen Projektes sein, an das sie so glaubte? Zusammen mit drei Freunden gründete sie eine kleine Widerstandsgruppe. Informationen, Verbindungsaufnahme in den Westen, Flugblattaktionen. Bevor die Gruppe jedoch überhaupt aktiv werden konnte, flog sie auf. Im Juli 1950 in Potsdam der Prozess gegen die Vier unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Keine Entlastungszeugen, keine Verteidigung. Entsprechend das Urteil: für Edeltraud Eckert 25 Jahre Haft und Arbeitslager. Drastisch und doch üblich für die frühe DDR. Die Zwanzigjährige kam ins Zuchthaus Bautzen, dann nach Waldheim, schließlich in die Frauenvollzugsanstalt Hoheneck. Schlimmste Haftbedingungen, Hunger, die Willkür des Gefängnisalltags und ihre Gedichte. Eine Art ästhetische Existentialschule. Ausgehärtet, spröde, mitunter pathetisch. Im Pathos der Schmerz. Gedichte, fest gefügt und durchkomponiert auch als Lieder, um zusammen mit 120 Frauen im sogenannten Gewahrraum so etwas wie Weihnachten zu überstehen. Im Januar 1955, nach fast 5 Jahren Haft, ein schwerer Arbeitsunfall. Ihre Haare gerieten in die Getriebewelle, die Kopfhaut wurde großflächig abgerissen, die Wunde nicht behandelt. Edeltraud Eckert starb im April 1955 im Haftkrankenhaus Meusdorf bei Leipzig an Wundstarrkrampf. Zwei Tage später die anonyme Einäscherung. Die Eltern erhielten ein Paket. Darin das Kostüm, das Edeltraud Eckert zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung getragen hatte, ein paar Habseligkeiten und ein kleines Oktavheft. Darin ihre Gedichte.

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